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Gaza in der Geschichte

Hier begegneten sich Welten

Essay
Gaza in der Geschichte
Ansicht der Stadt Gaza 1850-1851, Lithographie von Charles William Meredith van de Velde (1818-1898)

Nie war es so schlimm um den Gazastreifen bestimmt wie in der Gegenwart. Dabei zeigt ein Blick auf die reichhaltige Vergangenheit, welche Zukunft das Gebiet am Mittelmeer haben könnte.

Am Morgen des 7. Oktober 2023 veröffentlicht die wichtigste Tageszeitung Frankreichs, Le Monde, einen Artikel über die Rehabilitierung des Wadi Gaza, eines Flusslaufs, der nach starken Regenfällen Wasser in das größte Feuchtgebiet der Enklave führt. Es soll zu einem ökologischen Korridor werden. Das Becken wurde gereinigt, sauberes Klärwasser zugeführt, heimische Flora und Fauna wieder angesiedelt. Das Wadi entspringt ein paar hundert Kilometer östlich zwischen der Negev-Wüste und den Hügeln von Hebron. Über Jahrtausende war der Fluss eine Quelle für den zeitweise großen Reichtum der Stadt.

 

Dass der Artikel am Tag des Massakers der Hamas an 1.200 Israelis erschien, war natürlich eine dramatische Koinzidenz. Der Autor, Samuel Forey, ein Bekannter von mir, wollte »Positives und Menschliches« aus Gaza berichten. Es war vermutlich der schlechtmöglichste Zeitpunkt. Aber sein Artikel ist wichtig. Über Gaza und seine Jahrtausende alte Geschichte weiß kaum jemand etwas. Gaza war niemals ein geografisch isolierter Streifen, sondern ein wichtiges kulturelles und wirtschaftliches Zentrum.

 

In der größten Oase der Region war Wasser nicht die einzige Quelle des Reichtums. Gaza war seit Jahrtausenden eine Brücke zwischen Asien und Afrika, die die Levante mit Ägypten und Nordafrika verband. Als Horus-Weg wurde die Verbindung in pharaonischer Zeit und in osmanischer als Weg des Sultans bezeichnet. Zudem war es mit seinem Hafen die Verbindung nach Europa für Handelskarawanen von der Arabischen Halbinsel. Und natürlich war Gaza somit auch ein umkämpfter Ort, ein Ort von Weltgeschichte.

 

Gaza war mit seinem Hafen für Handelskarawanen von der Arabischen Halbinsel die Verbindung nach Europa

 

Ursprünglich von den Kanaanäern und auch dem »Seevolk« der Philister bewohnt, kämpften hier bereits Pharaonen gegen Assyrer und Babylonier. 530 vor Christus nahm der Perserkönig Kyros der Große die befestigte Stadt ein. Sein Nachfolger eroberte von hier aus Ägypten. Ein Jahrhundert später beschrieb der griechische Historiker Herodot, dass Gaza von einem König der Araber regiert wurde, vermutlich einem Vasallen der Perser. Drei Monate belagerte Alexander Große die Stadt im Jahr 332, wurde in den Kämpfen vermutlich verletzt, bis er mit überlegenem Kriegsgerät die Stadt einnahm und alle Männer töten ließ. Wie der französische Historiker Jean-Pierre Filiu scheibt, füllten die Plünderungen Gazas zehn Schiffe, bestimmt für Makedonien. Gemäß des Historikers Plutarch schickte Alexander seinem Hauslehrer Leonidas allein zehn Tonnen Weihrauch und zwei Tonnen Myrrhe. Der Weg für die Eroberung Ägyptens war frei.

 

Gaza entwickelte sich zu einem Zentrum des Hellenismus. Im Jahre 63 vor Christus wurde Gaza unter Caesars Rivalen Pompeius Teil der römischen Provinz Judäa. Auf die Römer folgten die Byzantiner im 4. Jahrhundert. Den Reichtum dieser Zeit bezeugen spektakuläre Mosaiken. Das Christentum breitete sich aus und zeitgleich mit Ägypten wurden hier die ersten bedeutsamen Klöster gegründet, etwa das des heiligen Hilarion. Der Mönch stammte aus einer wohlhabenden Familie in Gaza, studierte griechische Philosophie in Alexandria und wurde zum Gründer der ersten Einsiedlergemeinschaft in Palästina. Sein Kloster wurde zu einem der bedeutsamsten in der Region.

 

Gaza war seit dem 4. Jahrhundert nicht nur als Wallfahrtsort bekannt, sein Ruhm stammte auch aus einer anderen Quelle, dem Vinum Gazetum, dem Wein aus Gaza. Er wurde vom dortigen Hafen rings ums Mittelmeer exportiert, berühmt und gepriesen, etwa im 6. Jahrhundert von dem damals führenden europäischen Gelehrten und Bischof Gregor von Tours. Ein zeitgenössischer Pilger beschrieb Gaza wie folgt: »eine wunderbare Stadt, herrlich, seine Einwohner sind sehr respektvoll, zeichnen sich in jeder Hinsicht durch ihre Freundlichkeit und Liebe für Menschen aus fremden Gegenden aus.«

 

Den Vinum Gazetum rühmte schon im 6. Jahrhundert der Gelehrte und Bischof Gregor von Tours

 

637 fiel Gaza in die Hände des legendären muslimischen Generals und Eroberers Ägyptens, Amr Ibn Al-As. Die byzantinische Garnison wurde getötet, aber die Bevölkerung verschont. In der Folge konvertierten viele Christen Gayas zum Islam. Die kleinere jüdische Gemeinde, die seit der hellenistischen Periode in Gaza und auch in der Stadt Rafah präsent war, zahlte die Schutzsteuer und wurde somit nicht weiter behelligt.

 

Gaza wurde übrigens nie im Konsens der jüdischen Gelehrten als Teil von Eretz Israel betrachtet, dem gemäß des Talmud biblischen Land von Israel. Die jüdische Gemeinschaft blühte unter muslimischer Herrschaft bis zu den Kreuzzügen auf. Mehrmals wechselten die Herrscher der Stadt zwischen Muslimen und Christen, mehrmals wurde sie zerstört, bis der Heerführer Saladin, der Gründer der ayyubidischen Dynastie, sie 1187 endgültig zurückeroberte. Gaza erlebte vor allem unter den Osmanen, die sie 1516 in ihr Reich eingliederten, eine erneute Renaissance. Durch Nathan von Gaza wurde der Ort im 17. Jahrhundert zu einem Zentrum für jüdische Mystik und Ursprung der größten modernen jüdischen messianischen Bewegung, des Sabbatianismus.

 

Gaza als geostrategischer Knotenpunkt blieb auch in den folgenden Jahrhunderten umkämpft. Napoleon nahm die Stadt ein, um nach seinem Ägyptenfeldzug von dort nach Syrien vorzudringen. Großbritannien und das Osmanische Reich führten im Ersten Weltkrieg hier erbitterte Kämpfe. Auch unter britischem Mandat nach der Niederlage des Sultans blieb Gaza weiter Brücke und Drehkreuz. Vom Bahnhof Gaza konnte man nach Alexandria, Kairo, Jerusalem, Beirut und sogar vermutlich noch mit dem Zug nach Istanbul reisen.

 

Vom Bahnhof Gaza konnte man nach Alexandria, Kairo, Jerusalem, Beirut und sogar vermutlich noch mit dem Zug nach Istanbul reisen

 

Nach dem israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 kontrollierte Ägypten die Stadt und sein Umland. Der Begriff Gazastreifen entstand zu eben jener Zeit. 200.000 Flüchtlinge suchten infolge der Nakba hier Schutz. Die Bevölkerung verdreifachte sich dadurch. Die vermutlich schlimmsten Jahrzehnte in der Jahrtausende alten Geschichte des Ortes und der Gegend brachen an. Gaza wurde von seinem natürlichen Hinterland und dem Rest Palästinas mehr und mehr isoliert.

 

Aber es gab auch Hoffnungsschimmer. Israel eroberte Gaza 1967, aber 26 Jahre später unterzeichneten die PLO und Israel das Oslo-Abkommen, das zunächst Jericho im Westjordanland und Gaza unter die Verwaltung der Palästinensischen Autonomiebehörde stellte. Gaza wurde zu ihrem ersten Provinz-Hauptquartier, wo die erste Sitzung des palästinensischen Nationalrats stattfand. 1998 wurde in Anwesenheit von US-Präsident Bill Clinton und Jassir Arafat der Internationale Flughafen von Gaza eröffnet. 700.000 Passagiere sollten jährlich befördert und Gaza wieder an die Welt angebunden werden. Aber dieser Traum und der vom Frieden war von kurzer Dauer. Der Flugverkehr wurde während der ersten Intifada 2001 eingestellt, anschließend wurde der Tower von den Israelis bombardiert und die Start- und Landebahnen mit Bulldozern zerstört. 2005 räumte Israel unilateral alle Siedlungen im Gazastreifen, ohne das mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zu koordinieren.

 

2006, kurz darauf, gewann Hamas bei den Parlamentswahlen der Palästinensischen Autonomiegebiete die absolute Mehrheit. Es brach ein bewaffneter Konflikt mit der PLO aus, woraufhin Hamas begann, Gaza alleine zu regieren. Es folgte eine Spirale aus Gewalt und Gegengewalt zwischen Hamas und Israel, die in dem barbarischen Massaker der Hamas am 7. Oktober und der anschließenden Zerstörung Gazas mit bislang über 30.000 Toten auf palästinensischer Seite neue Höhepunkte des Grauen erreicht.

 

Vor Gaza liegen große Erdgas- und Erdölreserven, über deren Ausbeutung sich Israelis, Palästinenser und Ägypter fast schon geeinigt hätten

 

Warum diese lange historische Herleitung? In Zeiten der Verzweiflung, immensen Trauer und Hoffnungslosigkeit, in Zeiten, in denen die Region so isoliert ist und dort vermutlich mehr Menschen sterben als jemals zuvor, ist ein Blick auf Geschichte wichtig. Sie kann Mut machen. Man kann trotz aller Konflikte, die sie in sich trägt, Visionen aus ihr schöpfen, weil sich an gewissen Gegebenheiten eben nichts ändert. Das Wadi Gaza existiert noch und Gaza ist geografisch immer noch strategischer Knotenpunkt, der wieder zur Brücke zwischen Afrika, Asien, Europa und Arabien werden kann. Und das ist auch kein naiver Traum, selbst wenn es Jahrzehnte dauern wird, um die Wunden auf beiden Seiten zu heilen. Dazu braucht man eine Vision. 

 

Vor Gaza liegen große Erdgas- und Erdölreserven im Mittelmeer, über deren Ausbeutung sich Israelis, Palästinenser und Ägypter fast schon geeinigt hätten. Die Bevölkerung ist relativ gut ausgebildet. Und die Golfstaaten, allen voran Saudi-Arabien, könnten Milliarden für den Wiederaufbau Gazas investieren – falls Palästinenser und Israelis es schaffen, endlich eine politische Lösung zu finden. Aussöhnung und Verzeihen gehören zu den schwierigsten und langwierigsten Herausforderungen für Menschen und ihre Gesellschaften. Aber auch hier existieren historische Beispiele – das friedliche Ende der Apartheit in Südafrika, oder eines, das uns im Herzen Europas betrifft: die Transformation der deutsch-französischen Erbfeindschaft in eine Freundschaft.


Dr. Asiem El Difraoui ist Politikwissenschaftler. Als Mitgründer der Candid Foundation ist er seit 2015 einer der Herausgeber von zenith.

Von: 
Asiem El Difraoui

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